Latein und Europa – eine Stärkung der europäischen Wurzeln und Identität

Die vielen Herausforderungen, mit denen Europa immer wieder konfrontiert ist, zeigen, wie schwer sich die europäischen Staaten damit tun, sich einer gemeinsamen europäischen Identität bewusst zu werden. Doch welchen Beitrag kann das Fach Latein an dieser Stelle leisten? Welche Chancen ergeben sich für die Schülerinnen und Schülern bei der Beschäftigung mit der lateinischen Sprache?

movere (Lat.) – muovere (Ital.) – mouvoir (Fra.) – mover (Spa.) – to move (Eng.)

„Latein ist doch eine tote Sprache!“ – Diesen Vorwurf hört man nicht selten, wenn es um die Frage geht, ob es sich lohnt, die lateinische Sprache zu lernen, denn schließlich ist sie keine Amtssprache der europäischen Länder – abgesehen vom Staat der Vatikanstadt. Doch ist dieser Vorwurf berechtigt?

Wer sich das Sprachbeispiel genauer anschaut, sieht, dass das Lateinische in den europäischen Fremdsprachen weiterlebt. Dies wird nicht nur am Wortschatz sichtbar, sondern auch an der Grammatik der jeweiligen Sprachen. Der Lateinunterricht leistet einen Beitrag, sich dieser sprachlichen Wurzel Europas bewusst zu werden und diese für das eigene Verständnis (etwa auch bei der Herleitung von Fremdwörtern) zu nutzen. Am EU-Projekttag beschäftigten sich mehrere Gruppen von Lateinlernenden mit der Frage, wie viel Latein wir im Alltag tatsächlich nutzen, ohne dass wir aktiv darüber nachdenken.

Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass die römische Kultur einen direkten Einfluss auf unsere Wochentage genommen hat? Was im Lateinischen „dies Lunae“ (Tag der Mondgöttin) war, wurde im Deutschen zum „Montag“, im Englischen zu „Monday“ und im Französischen zu „lundi“.

Aber nicht nur der Einfluss auf die Sprache wird im Lateinunterricht genauer untersucht, sondern auch die vielen kulturellen Errungenschaften etwa im Bereich der Kunst, die unsere Museen in ganz Europa prägen. Vielfach sind die künstlerischen Darstellungen und Werke nämlich von antiken Mythen durchdrungen. Ja sogar die bekanntesten Dichter wie Shakespeare mit seinem weltbekannten Drama „Romeo und Julia“ haben sich von römischen Werken inspirieren lassen. Eine Beschäftigung mit diesen berühmten Geschichten und Mythen öffnet nicht nur den Horizont für die Auseinandersetzung mit der europäischen Kunst und Literatur, die zahlreich von der römischen Kultur geprägt wurde, sondern kann zugleich selbst Inspirationsquelle zum eigenen kreativen Schaffen sein.

Neben den künstlerischen, literarischen und sprachlichen Einflüssen auf die europäische Kultur, die im Unterricht behandelt werden, ist auch der Einfluss des römischen Rechts auf das Recht der europäischen Staaten von grundlegender Bedeutung.

Jeder, der sich einmal vor Gericht zu verantworten hat, dürfte sich über den lateinischen Satz „In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten“ freuen. Dass dieser Grundsatz bereits das römische Recht prägte und von dort seinen Weg in das heute geltende Recht nahm, mag den Angeklagten im Moment seines Freispruchs zwar unberührt lassen; gäbe es diesen Grundsatz jedoch nicht, hätte dies für seine Zukunft wenig glückliche Folgen.

Wenn in der Politik der Aufruf zu hören ist, man müsse stärker in den Blick nehmen, was Europa verbinde bzw. eine und nicht trenne, dann kann der Lateinunterricht seinen Beitrag für das Verbindende der europäischen Staaten leisten, da er den Blick auf die Wurzeln richtet – die Wurzeln der europäischen Kultur.